Ruhe und Erfahrung

100 Tage Hecking: Viel Lob und ein verlockendes Angebot

So kurz angebunden wie am vergangenen Sonntag ist Dieter Hecking eher selten. Nach dem 2:2 im bedeutsamen Kellerduell bei Holstein Kiel wollte der Trainer des VfL Bochum nach eigener Auskunft einfach nur schnell zum Flieger, der den Tabellenletzten zurück ins Ruhrgebiet brachte. Offenkundig war der 60-Jährige aber auch nicht bester Laune, nachdem seine Mannschaft zwei Punkte bei einem direkten Konkurrenten verspielt hatte und zudem mehrfach verletzungsbedingt wechseln musste. Immerhin gab es zu Wochenbeginn in den meisten Fällen Entwarnung, nur nicht bei Myron Boadu. Der mit sieben Saisontreffern torgefährlichste Bochumer fällt wegen einer Muskelverletzung im Oberschenkel mindestens für das Derby gegen Dortmund aus, teilte der Verein am Dienstag mit. Die genaue Ausfallzeit ist noch nicht bekannt. Klar ist nur: Boadu kann im Abstiegskampf ohne Zweifel ein entscheidender Faktor sein.

Das weiß auch Dieter Hecking, der seinen verletzungsanfälligen Angreifer Anfang Januar öffentlich scharf kritisierte, aber schon da betonte, welch großes Potenzial in ihm stecke. Hecking hoffte auf eine positive Reaktion, und sah sich in seiner Herangehensweise bestätigt, als Boadu eine Woche später gegen Leipzig prompt dreifach knipste. Natürlich habe er mitbekommen, wie sein Trainer über ihn gesprochen hat, erzählte Boadu nach der Partie: „Der Coach ist ein ehrlicher Mensch. Es wäre mir zwar lieber gewesen, wenn er es mir direkt gesagt hätte. Aber er hatte Recht. Ich wollte es ihm dann ein bisschen zeigen.“ Unter Vorgänger Peter Zeidler wäre die öffentliche Kritik an den Trainingsleistungen eines Spielers vermutlich wirkungslos verpufft oder gar nach hinten losgegangen. Doch Hecking besitze eine „natürliche Autorität“, erzählt Gerrit Holtmann, der von dem Trainerwechsel im Herbst wohl am meisten profitiert hat.

Ruhe und Erfahrung

Seit exakt 100 Tagen ist Dieter Hecking nun im Amt, und die Mannschaft folgt ihm so, wie es sich die Verantwortlichen um VfL-Geschäftsführer Ilja Kaenzig bei der Verpflichtung erhofft haben. „Das beste Beispiel ist doch die viel diskutierte Dreierkette. In der vergangenen Saison war sie noch verpönt, jetzt funktioniert sie. Der Unterschied ist, dass Dieter Hecking mit seiner Erfahrung von mehr als 400 Bundesliga-Spielen als Trainer weiß, wie er sie am besten vermittelt und damit auch eine hohe Glaubwürdigkeit bei den Spielern erzeugt“, erklärt Kaenzig und erhält Zustimmung von den Spielern. Ihr Lob geht über das sonst übliche Maß der Höflichkeit hinaus. „Wir brauchten einen Trainer, der Ruhe ausstrahlt. Und diese Ruhe war sofort zu spüren, als er den Raum betrat. Man glaubt ihm einfach alles“, berichtet Angreifer Philipp Hofmann. An der Seitenlinie wirkt Hecking besonnen, nur selten fährt er aus seiner Haut.

Obwohl die sportliche Lage an der Castroper Straße nach wie vor äußerst angespannt und der Saisonausgang völlig ungewiss ist. Den letzten Tabellenplatz haben die Bochumer auch mit Hecking noch nicht verlassen. In zwölf Partien unter seiner Regie gelangen zwei Siege und vier Unentschieden, macht insgesamt zehn Punkte. Immerhin: Betrachtet man nur den Zeitpunkt seit Heckings Amtsantritt, steht der VfL auf Rang 14. Und: An seinem ersten Arbeitstag betrug der Rückstand auf den Relegationsplatz sieben Punkte, jetzt sind es nur noch drei. Vor allem die Zahl der Gegentreffer ist unter Hecking deutlich zurückgegangen. Bei den selbst erzielten Toren ist der VfL in der Hecking-Tabelle jedoch Schlusslicht, im Schnitt trifft sein Team weniger als einmal pro Spiel. Geblieben ist zudem die eklatante Auswärtsschwäche. Nach wie vor wartet der Revierklub auf seinen ersten Saisonerfolg in der Fremde.

Hecking wartet noch

Für Ilja Kaenzig ist das aber gewiss kein Kriterium, das er zur Beurteilung der Entwicklung entscheidend miteinbeziehen würde. Kaenzig schätzt die verbindliche und vor allem die pragmatische Art des routinierten Fußballlehrers und ist mit seiner bisherigen Arbeit „sehr zufrieden.“ Bei Hecking gibt der Kader die Spielweise vor, nicht umgekehrt. Auch die Vorstellungen der beiden in der zurückliegenden Transferperiode waren fast deckungsgleich. Kaenzig und Hecking bevorzugen eine eher klassische Art des Scoutings, vertrauen ihrem eigenen Auge und ihrer Menschenkenntnis mehr als einer umfangreichen Datenanalyse. Hecking schaut trotzdem über den Tellerrand hinaus, pflegt etwa einen regelmäßigen Austausch zu den Nachwuchstrainern des Klubs, um Talente zu fördern. Auch mit den Fans kommt er bisweilen ins Gespräch, ohne sich anbiedern zu wollen. Hecking hält mehr Distanz als Vorgänger Zeidler.

In jedem Fall aber legt Hecking die Grundlage für eine längere Zusammenarbeit. Sein Vertrag gilt nur bis zum Saisonende. Vor der Partie in Kiel machte Kaenzig seinem Trainer deshalb ein verlockendes Angebot, indem er öffentlich und vor laufenden Kameras baldige Vertragsgespräche in Aussicht stellte. „Da würden wir dann, so Dieter denn will, die Zukunft auch festzurren“, sagte Kaenzig bei DAZN. Hecking selbst äußerte sich zuletzt deutlich zurückhaltender, weil er den passenden Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen sieht: „Meine ganze Konzentration liegt darauf, den Klassenerhalt zu schaffen. Was sich daraus entwickeln kann, werden wir dann sehen. Das ist so weit weg und nicht mein vorderstes Thema.“ Klar ist aber: Hecking und der VfL können sich eine gemeinsame Zukunft sehr gut vorstellen, womöglich sogar unabhängig vom Saisonausgang, in der Bundesliga wie eine Spielklasse tiefer.


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(Foto: Marc Niemeyer)