Im Normalfall ist Thomas Letsch ein eher ruhiger und kontrollierter Mensch. Doch als der VfL Bochum Ende Mai den Klassenerhalt perfekt machte, ließ auch der Cheftrainer seinen Emotionen freien Lauf. Er sang mit den Fans, feierte gemeinsam mit ihnen im Bermuda-Dreieck, und hatte nach eigener Aussage kurz vor dem Schlusspfiff gegen Leverkusen sogar feuchte Augen. Der 54-Jährige ist in Bochum angekommen – und steht nun vor neuen Herausforderungen. Für Letsch ist es die erste Saison, die er von Beginn an verantwortet. Ein Gespräch über Ziele, Personalien und Spielsysteme.
Herr Letsch, der Aufstieg und der doppelte Klassenerhalt wurden in den vergangenen Jahren oft als Wunder betitelt. Sollte der VfL in dieser Saison erneut über dem Strich landen, würden Sie es wieder als Wunder bezeichnen?
Alle Leistungen waren außergewöhnlich. Und wir haben das Potenzial dazu, den Klassenerhalt erneut zu schaffen. Ein Selbstläufer wird es nicht. Als Wunder würde ich den dritten Klassenerhalt aber nicht mehr bezeichnen. Das Wort klänge dann etwas abgedroschen.
Haben Sie die Sorge, dass die Erwartungshaltung im Umfeld steigt? Dass der Klassenerhalt allein nicht mehr genügt?
Das kann passieren, aber wir sollten demütig bleiben. Für den VfL geht es um nichts anderes, als in der Liga zu bleiben und sich dort zu etablieren. Schauen wir uns in der Bundesliga um. Gibt es Vereine, die wir automatisch hinter uns einordnen können? Ich sehe keine. Auch die beiden Aufsteiger werden alles daransetzen, in der Liga zu bleiben. Sie haben es verdient, in der Bundesliga zu spielen.
Die Gegenfrage: Was tun Sie gegen Selbstzufriedenheit? Wo setzen Sie neue Reizpunkte?
Wir dürfen uns nicht auf dem ausruhen, was wir erreicht haben, das ist klar. Es braucht Triggerpunkte, kleine Veränderungen, damit jeder merkt: Es geht wieder von vorne los. Die setzen wir bereits durch personelle Veränderungen in der Mannschaft oder im Trainerteam. Auch auf dem Trainingsplatz sind es Kleinigkeiten, neue Übungen zum Beispiel. Wir krempeln aber auch nicht alles komplett um. Wir haben eine gute Basis, dazu die Euphorie, die rund um den Verein und in der gesamten Stadt entstanden ist.
Rein sportlich betrachtet: Was waren in der Saisonanalyse die Hauptkritikpunkte?
Die einfache Antwort lautet: Wir haben zu viele Gegentreffer kassiert und zu wenig Tore geschossen. In der vergangenen Saison haben wir zu oft sehr deutlich verloren. Wir müssen also an der defensiven Stabilität arbeiten. Vor allem die Boxverteidigung ist dabei ein Thema. Wir hatten oft eine gute Strafraumbesetzung, haben aber nicht eng genug verteidigt oder uns individuelle Fehler erlaubt. Die Art und Weise, wie wir Fußball gespielt haben, hat uns aber grundsätzlich stark gemacht und am Ende zum Ziel geführt. Die Prinzipien bleiben deshalb.
Und in der Offensive? Das Spiel des VfL war leicht zu durchschauen.
Wir haben phasenweise zu viele lange Bälle gespielt oder haben uns zu sehr auf den zweiten Ball fokussiert. Darauf haben sich unsere Gegner eingestellt. Wir wollen also flexibler und variantenreicher werden. Es wäre allerdings völlig falsch, jetzt einen ganz anderen Fußball zelebrieren zu wollen. Im Kern wird vieles bleiben. Aber natürlich werden wir speziell gegen tieferstehende Gegner auch weitere fußballerische Lösungen finden müssen.
Sie gelten als Befürworter oder gar Anhänger der Dreierkette. Ist das Ihre bevorzugte Variante, die Sie nun auch in Bochum implementieren wollen?
Wir sollten dieses Thema nicht zu hochhängen. Ich bin nun schon seit einigen Jahren Trainer und habe bei genau einem Klub auf eine Dreierkette gesetzt. Das war bei Vitesse Arnheim, weil ich der Meinung war, dass ein 3-5-2-System am besten zur Mannschaft gepasst hat. Und genau das ist der Punkt. Es hängt immer von der Mannschaft ab, die man zur Verfügung hat. Ich möchte die Spieler dort einsetzen, wo sie am stärksten sind. Innerhalb eines Spiels gibt es ohnehin fließende Übergänge in der Systematik. Also: Keiner in Bochum muss Angst davor haben, dass wir jetzt etwas völlig anderes machen, was nicht zur Mannschaft passt.
Ihr wollt das VfL-Magazin einmalig oder dauerhaft unterstützen? Nutzt dafür gerne die unkomplizierte Zahlungsoption via PayPal. Danke, dass ihr Berichterstattung dieser Art auch in Zukunft möglich macht.
Sie hatten und haben in diesem Sommer aber die Möglichkeit, den Kader mitzugestalten. Inwiefern haben Sie davon Gebrauch gemacht?
Natürlich habe ich als Trainer Wünsche. Uns war klar, dass einige Spieler gehen werden und wir einen kleinen Umbruch einleiten müssen, um die Mannschaft zu verjüngen. Wir haben uns für Spieler entschieden, die uns deutlich mehr Flexibilität geben – und Fähigkeiten mitbringen, die wir in dieser Form noch nicht hatten. Matus Bero zum Beispiel ist ein Box-to-Box-Spieler, der aus dem Mittelfeld auch mit in den Strafraum geht. Lukas Daschner bringt mit seiner Kreativität eine andere Komponente in unser Spiel. Und Moritz Kwarteng kann in der Offensive fast jede Position bekleiden. Wir wollen auf allen Positionen eine Konkurrenzsituation schaffen.
(Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview wurde bereits vor der Verpflichtung von Bernardo und Maximilian Wittek geführt. Deshalb finden sie an dieser Stelle keine Erwähnung.)
Inwieweit haben Sie auch auf charakterliche Eigenschaften geachtet?
Die waren und sind mir sehr wichtig. Wir brauchen gute Typen, weil ich möchte, dass die Atmosphäre innerhalb der Mannschaft so hervorragend bleibt. Jeder von den Neuen brennt darauf, für den VfL Bochum zu spielen. Nehmen wir Felix Passlack. Der hat sogar schon in der Champions League gespielt, unterschrieb bei uns aber einen Vertrag, als er noch gar nicht wusste, in welcher Liga es weitergeht. Ähnlich war es bei Noah Loosli, der sich schon am ersten Trainingstag in einer Top-Verfassung präsentiert hat. Solche Spieler brauchen wir und keine, die zwar eine individuell hohe Qualität mitbringen, aber die Kabine auf den Kopf stellen. Denn der VfL Bochum wird immer auf einen guten Teamgeist angewiesen sein.
Auch im Trainerteam gab es Veränderungen. Frank Heinemann tritt kürzer, Markus Feldhoff ist als Co-Trainer hinzugekommen. Außerdem gibt es zwei neue Spezialtrainer. Warum?
Funny Heinemann hat uns signalisiert, dass er kürzertreten möchte. Das finde ich wirklich schade, weil die Zusammenarbeit sehr gut ist. Der Verein hat dann entschieden, dass er einen Co-Trainer holen möchte, der nicht an einen Cheftrainer gebunden ist, genauso wie Funny. Wir haben uns dann aber gemeinsam für Markus Feldhoff entschieden. Er bringt Erfahrung und frische Ideen mit. Björn Kadlubowski übernimmt die Schnittstelle im Rehabereich, wenn verletzte Spieler auf den Platz zurückkehren. Da sind wir nun besser aufgestellt. Und auch im athletischen Bereich können wir noch mehr herausholen. Ich kenne Klaus Luisser noch aus Salzburg, er ist gereift und kennt die Bundesliga.
Stichwort Bundesliga. Was haben Sie gedacht, als der neue Spielplan veröffentlicht wurde. Auf den VfL wartet ein ziemlich anspruchsvolles Startprogramm, oder?
Das war auch mein Gedanke. Wir starten in Stuttgart. Der VfB ist in der vergangenen Saison zwar hinter uns gelandet, einfach wird die Aufgabe trotzdem nicht. Aber was ist einfach in dieser Liga? Gegen die Aufsteiger mit reichlich Euphorie möchte zu Beginn auch keiner spielen. Dass wir am zweiten Spieltag auf Dortmund treffen und ziemlich früh auswärts gegen die Bayern, Leipzig und Freiburg antreten, ist natürlich ein Brett. Aber mir ist es lieber, wir starten gegen Stuttgart und Dortmund als in der 2. Liga.
So können Sie am 26. August doppelt feiern. Ihren 55. Geburtstag und den Derbysieg gegen Dortmund…
Das ist der Plan (schmunzelt). Zuletzt habe ich 2021 an meinem Geburtstag mit Vitesse gegen Anderlecht um den Einzug in die Gruppenphase der Europa-Conference-League gespielt. Wir haben gewonnen. Wenn es gegen Dortmund wieder so läuft, würde ich mich sehr freuen.
Würden Sie sich auch über eine Vertragsverlängerung in Bochum freuen? Ihr Vertrag läuft am Ende der Saison aus.
Als ich vor knapp einem Jahr hier präsentiert wurde, dachten bestimmt einige: Wer ist der denn? Warum bekommt der sofort einen Vertrag bis 2024? Jetzt kann ich sagen: Die Situation ist doch wunderbar, mein Vertrag läuft noch fast ein Jahr. Es gab noch keine Gespräche über eine Verlängerung und das ist auch völlig in Ordnung so. Ich bin da sehr entspannt. Ich fühle mich wohl beim VfL, und es passt aus meiner Sicht sehr gut zwischen uns.
Hätten Sie denn im September 2022 bei Ihrer Unterschrift in Bochum gedacht, so schnell und so sehr mit dem Klub zusammenzuwachsen?
Ich habe es natürlich gehofft und mir viele Gedanken über die Mannschaft, den Verein und das Umfeld gemacht. Aber meistens kommt es anders als man denkt. Man hat es mir leicht gemacht, mich im Verein und der Stadt wohlzufühlen. Die Euphorie zum Beispiel, die wir im Mai entfacht haben, war so nicht planbar. Ich bin stolz, ein Teil dieser Geschichte zu sein und kann mich mit dem Verein identifizieren. Das habe ich auch schon anders erlebt.
Ist es schon jetzt Ihre emotionalste Station als Trainer?
Durch die Erfolge, die wir mit Vitesse gefeiert haben, national wie international, war es auch da eine außergewöhnliche Zeit. Aber die vergangene Saison beim VfL, vor allem mit dem unglaublichen Ende, war irre emotional und wird sicher unvergesslich bleiben.
Dieses Interview ist zuerst im VfL-Heft des Bochumer 3Satz-Verlags erschienen. Auf 132 Seiten bietet das Magazin zum Saisonstart ausführliche Interviews, viele Porträts und interessante Hintergrundgeschichten. Gedruckte Exemplare liegen in vielen Geschäften im gesamten Bochumer Stadtgebiet kostenlos aus. Es ist außerdem direkt beim 3Satz-Verlag (Alte Hattinger Str. 29) erhältlich.